Astrid Windgassen-Frank > Ski fahren

Nun steht auch viel Tröstendes in diesen Frauen-ab-Vierzig-Zeitschriften. Zum Beispiel weiß die Wissenschaft seit längerer Zeit, dass es durchaus gesünder ist, wenn man „im Alter“ ruhig etwas fülliger wird. Es heißt „Normalgewicht plus zehn Prozent“.

Ich schaue an mir runter und denke: „Plus zehn Prozent? Und wo bleiben die neunzehn Prozent Mehrwertsteuer? Die wird doch sonst überall drauf gerechnet. Warum nicht hier?“

Wissen Sie, woran ich merke, dass ich wieder zugenommen habe? Jetzt mal abgesehen von Waage und dass die Buxe nicht mehr zugeht? Ich interessiere mich in Katalogen wieder nur noch für den zweiten Teil „Möbel und Wohnaccessoires“. Vorne sind Klamotten und hinten die Möbel. Ich überblättere den ersten Teil.

Das kennt jede Frau beim Shoppen. Wenn es überall zwickt, geht man freiwillig nicht mehr in diese kleinen Folterkammern. Umkleidekabinen mit grauenvollen Spiegeln rundherum und Neonlicht wie im Operationssaal.

Wer bitte ist dafür verantwortlich? Ist den Ladenbesitzern und der Bekleidungsindustrie immer noch nicht klar, dass sie alle das Tausendfache an Umsatz machen könnten, wenn diese Kammern des Schreckens stattdessen mit gedimmtem Licht und schmal machenden Spiegeln ausgestattet wären? Was soll das? Ist das durch den Verbraucherschutz gesetzlich vorgeschrieben, dass hier die Kundin nicht betrogen werden darf? Doch, bitte betrügt mich!

An der Stelle will ich keinen Verbraucherschutz! Die sollten sich lieber darum kümmern, dass nicht mehr auf Lakritz- und Weingummitüten „Ohne Fett“ draufstehen darf. Ja, geht‘s noch? In Gummibärchen und Lakritzschnecken war noch nie Fett! Jede Menge Zucker, aber kein Fett. Warum wird das jetzt besonders betont? Da könnten sie auch draufschreiben „Jetzt ohne Rostschutzmittel“! War vorher auch nicht drin. Obwohl…, ganz sicher bin ich mir nicht.

Naja, jedenfalls bemerkt man steigendes Gewicht am sinkenden Interesse an der Bekleidungsindustrie und gleichzeitig verstärktem Verlangen nach Steh-Rümchen und neuen Möbeln. Zumindest geht dann die große Renovier- und Dekorationsphase wieder los. Auch Schmuck ist eine Alternative. Oder Schuhe. Schuhe gehen immer.

Ja, ich muss gestehen, dass ich eitel bin, wenn es um mein Gewicht geht. Bisher gab es weltweit keine Person, der ich mein Gewicht verraten hätte. Auch nicht unter Folter. Alter? Okay, von mir aus, lässt sich ja nicht vermeiden, steht im Ausweis. Aber Gewicht? Niemals. Da habe ich immer gelogen. Selbst beim Arzt, im Krankenhaus, Notaufnahme oder sonst wo. Ich schummelte immer ein paar Kilos weg. Ich weiß, dass Medikamenten-Dosierungen oft gewichtsabhängig sind. Ist mir Wurscht. Riskiere ich. Dosiere ich halt nach.

Jedes Jahr beim Skifahren flog ich bei dem ersten kleinen Buckel aus den Bindungen. Beim Skiverleih wurde nach Gewicht gefragt, um die Bindungen einzustellen. Bin ich bescheuert? Im überfüllten österreichischen Skiverleih laut die Wahrheit verkünden? Auf keinen Fall! Da fuhr ich lieber im Schneckentempo die Berge runter. War eh gesünder.

Ich soll also seit meiner Diagnose „Wechseljahre“ endlich zu meinem Gewicht stehen. Ich darf das offiziell. Kann man überall nachlesen. Ich habe mir vorgenommen, das zu trainieren. Beispielsweise auf einer Party werde ich mich einfach mal so hinstellen und werde nicht den ganzen Abend an meinem Kleid, Bluse oder sonst was herumzuppeln. Kennen Sie das? Sie stehen da, mit verkrampft hochgezogenen Schultern, versuchen mit aller Kraft den Bauch einzuziehen und zupfen permanent an Ihren Klamotten herum. Immer in der Sorge, dass Bauch- und Rückenspeck abgemalt werden? Mache ich jetzt bewusst nicht mehr. Ich stehe einfach da und lasse alles locker hängen. Darf ich, hab Wechseljahre. Hat auch Vorteile.

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