Astrid Windgassen-Frank > Stau

Manchmal fließt es auch im Stau

Ein weiteres Symptom im bunten Strauß der Wechseljahresbeschwerden ist die Blasenschwäche. Sie bereichert meinen Schatz an großartigen Erlebnissen und den damit verbundenen Anekdotenreichtum. Das habe ich jetzt aber schön positiv ausgedrückt. Meine Frauenärztin riet mir zu einer ordentlichen Psychotherapie als begleitende Hilfe zum natürlichen Umgang mit den Wechseljahren. Nun gibt es aber in ganz Deutschland offensichtlich zu viele Patienten für zu wenige Psychiater. 

Also habe ich mich an der Volkshochschule der Selbsthilfegruppe „Frau ab 45 mit Kurs auf Klimakterium“ angeschlossen. Dort lernen wir, alles schön positiv sehen. Wir sitzen im Kreis und empfangen freudig und gemeinsam Hitzewellen jeder Teilnehmerin und begrüßen sie fröhlich mit „Herzlich willkommen, warmes Körpergefühl!“ 

Danach prosten wir uns mit Ingwertee aus Klangschalen zu und summen leise vor uns hin. Insgesamt sind vier Doppelstunden angesetzt, und ich werde durchhalten. Glaube ich. 

Ähnlich wie im Schwangerschaftskurs und auch damals in der PEKIP-Gruppe muss ich feststellen, dass die Frauen untereinander jederzeit bereit sind, aber auch wirklich die intimsten Details preiszugeben. Da kennen wir nichts. Da wird gnadenlos und sehr anschaulich über alles berichtet, was der Frauenkörper so hergibt oder auch nicht. Frauen sind vor nichts fies. So fühlte ich mich dann auch in der Runde ermutigt, von meinem Erlebnis auf der A8 kurz vor Ulm zu erzählen.

Ich saß allein im Auto auf der A8 Richtung Augsburg. In Ulm, an Ulm und um Ulm herum gab es seit Jahren die größte Ausstellung bundesdeutscher Baustellen. Kilometerlang ging nichts mehr. Man stand. Und das gerne auch mal über einige Stunden. Nun habe ich seit vielen Jahren eine sehr gut trainierte Blase. Wirklich. Ich trinke viel Wasser und kann lange einhalten. Aber wenn Schluss ist, ist Schluss. Dann ist mir relativ egal, wo ich grade bin. Ob Busch oder Baum, ich kann das unglaublich schnell und unauffällig. Mein Tipp: Nicht lange fackeln und sich nervös umschauen, ob auch keiner kommt. 

Einfach – zack – Hose runter, in die Hocke, laufen lassen und – zack – Hose wieder hoch. Das geht so schnell, dass ich noch nie aufgefallen bin. Glaube ich zumindest. 

Ich stand also seit einer Stunde auf der A8, provisorisch zweispurig an dieser Stelle mit gelben Linien abgetrennt, alles sehr eng. Ich stand auf der linken Spur, zwanzig Zentimeter Grünstreifen bis zur Mittelplanke. Und ich musste. Ganz dringend. Ich hatte das natürlich schon so oft erlebt, dass ich im Stau pinkeln musste. Und jedes Mal fragte ich mich, warum ich nicht besser vorbereitet war. Warum hatte ich unterwegs so viel getrunken? Warum hatte ich nicht rechtzeitig bei den ersten Warnzeichen die letzte Raststätte angesteuert?

Warum hatte ich noch keine saubere Lösung für die Frau unterwegs im Auto erfunden? Die Urinflasche für die Frau? Den Katheter to go?

Wie immer suchte ich im Auto nach etwas, das für den schlimmsten Fall geeignet war. Und wie immer fand ich nichts. 

Nach einer weiteren Stunde im Stau brach mir der Schweiß aus.

Ich spürte Nierenstau auf beiden Seiten. Entschlossen stieg ich aus und war erleichtert, dass im Auto vor mir eine Frau saß. Sie war allein. Ich musste ihr nicht viel erklären. Sie verstand sofort, stieg aus und öffnete die linke hintere Autotür. Offene Autotüren sind ein guter Sichtschutz für den Notfallpinkler. Das hatte ich schon hundertmal ausprobiert. Nachdem ich also meine Fahrertür geöffnet hatte, die Kollegin vor mir ebenfalls, hockte ich mich sofort auf den schmalen Grünstreifen und ließ es laufen. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Auf der Gegenfahrbahn gab es keinen Stau, dort rollte der Verkehr. Ich hoffte, keine Auffahrunfälle durch Schaulustige und deren plötzliches Abbremsen zu verursachen.

Dieses Glücksgefühl des ersten Loslassens wurde nach wenigen Sekunden durch das fürchterlich laute Hupen des Sattelschleppers schräg hinter mir auf der rechten Spur unterbrochen. Jetzt hatte ich noch gefühlte sieben Liter in der Blase und keine Chance mehr, die Hose vorzeitig hochzuziehen. In diesem Moment blickte ich in die schreckgeweiteten Augen der hilfsbereiten Dame vor mir, die immer noch neben ihrem Auto stand. Mit einem lauten „Oh mein Gott“ sprang sie in ihr Auto, knallte die Tür – meine Toilettentür – zu, startete den Motor und fuhr zwei Meter schräg vorwärts auf den Grünstreifen. Während ich also mit nacktem Hintern auf der A8 hockte, versuchten die Staunachbarn um mich herum eine Gasse zu bilden.

Eine Gasse für den Rettungswagen, Polizeiwagen, Notarzt, Feuerwehr und Abschleppdienst, die sich mit lauten Sirenen näherten. Zuerst fuhr der LKW-Fahrer mit einem Lachanfall an mir vorbei und hatte von oben aus seinem Führerhaus freie Sicht auf mich. Dann grüßten mich mehr oder weniger verständnislos aus den jeweiligen Fahrzeugen die Rettungssanitäter, die Polizisten und die Feuerwehrmänner. Ich winkte allen aus meiner hockenden Position mit einer lässigen Handbewegung so hoheitsvoll wie möglich zu. 

Das Kind war so tief in den Brunnen gefallen, dass mir nur noch Omas guter Rat einfiel, peinlichen Situationen mit möglichst viel Würde zu begegnen. 

Inzwischen waren die sieben Liter durch, ich zog schnell die Hose hoch, als der Notarzt im Auto langsam an mir vorbeifuhr. Er streckte kurz den Kopf aus dem Fenster und fragte mich, ob ich auch ein Unfallopfer sei und ob er mir helfen könne. Ich zögerte einen Moment und wollte ihn erst um Rat fragen, was Blasenschwäche und entsprechende Medikamente anging. 

Aber ich hatte meine Gesundheitskarte nicht dabei …

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