Astrid Windgassen-Frank > MRT

Fast weg, aber immer noch da

FTD ist keine  Abkürzung für eine neue Diät. FTD ist die Abkürzung für „Frontotemporale Demenz“. Nach den bisher spärlichen Ergebnissen aus der medizinischen Forschung und eigener Beobachtung könnte man auch sagen, dass FTD die sehr bösartige kleine Schwester der Alzheimer-Demenz ist. 

Klein, weil die Anzahl der diagnostizierten Menschen deutlich geringer ist als die inzwischen stattlich angewachsene Gemeinde der Alzheimer-Patienten. FTD ist eine seltene Form der Demenz. Jedoch wird gemunkelt, dass die Dunkelziffer wahrscheinlich höher ist. Da draußen laufen einige Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten, die aber bisher nicht dieser Erkrankung zugeordnet wurden. Wie auch? Die ersten Symptome stellen sich so unterschiedlich, so wenig greifbar und kaum in Worte zu beschreiben dar, dass es oft Jahre dauert bis irgendjemand auf diese umständlich klingende Diagnose „Frontotemporale Demenz“ kommt. Kurze Erklärung:  Es ist eine Krankheit, bei der der Abbau von Nervenzellen zunächst im Stirn- und Schläfenbereich (Frontotemporallappen) des Gehirns stattfindet. Dort werden u.a. Emotionen und Sozialverhalten kontrolliert.

Meine Mutter hat es erwischt und wir wissen inzwischen seit kurzer Zeit, dass sie nicht, wie von uns lange angenommen, vor ungefähr zehn Jahren langsam zum hemmungslosen, unsozialen Soziopathen mit schlechten Tischmanieren mutiert ist. Wir wissen jetzt, dass sie krank ist. Es ist hoffnungslos, es gibt bisher weltweit keine Therapie. 

Neben Entsetzen über diese Erkrankung fühlen wir als Angehörige auch ein bisschen Erleichterung. Endlich haben wir für diese völlige Zerstörung der Persönlichkeit einen Namen. Ihre Aggressivität, die Taktlosigkeit, ihre Maßlosigkeit beim Essen und Rauchen, das völlige Abhandenkommen von Empathie, dazu Teilnahmslosigkeit und Hemmungslosigkeit – mit all diesen Eigenschaften quält sie uns jetzt seit Jahren. Anfangs ärgerten wir uns. Im Verlauf steigerte sich unsere Ablehnung in Abscheu, Ekel und Verachtung. Und plötzlich kommt so eine Diagnose und alles stellt sich auf den Kopf. Was haben wir versäumt? Hätten wir helfen können? Warum sind wir nicht früher darauf gekommen? Wir haben ihr Unrecht getan, und das löst wieder neue negative Gefühle aus, vor allem ein schlechtes Gewissen. 

Im Vergleich zur Alzheimer-Demenz stehen lange Zeit nicht die typische Vergesslichkeit sowie die räumliche und zeitliche Orientierungslosigkeit im Vordergrund. Das kommt bei FTD erst ganz am Ende des Krankheitsverlaufs dazu. Bei Menschen mit FTD treten Symptome auf wie enthemmtes Verhalten, häufig auch sexualisiert, Aggression, infantiles Verhalten, Maßlosigkeit beim Essen von Süßigkeiten und Trinken  von Alkohol, Unkonzentriertheit, Wortfindungsstörungen, Entwickeln von merkwürdigen Ritualen, Antriebslosigkeit bis hin zur Apathie, Vernachlässigen der Körperpflege, Inkontinenz, Schluckstörungen. Kurz gesagt – sie sind nicht mehr „salonfähig“.

Immer wieder kommen wir an unsere Grenzen, wenn meine Mutter, wie neulich im Restaurant, erst die Kellner mit rassistischen Äußerungen anpöbelt, am Nachbartisch mit einem gezielten Handgriff zwei Weingläser vom Tisch schnappt, in einem Zug herunterkippt, anschließend in die Restaurantküche im Hopsa-Lauf wie ein Kind hüpft und dort versucht, mit den Fingern am Koch vorbei in die Töpfe zu langen. Ganz großes Kino spielt sich da ab. Wir erleben, wie Menschen vor Peinlichkeit erstarren, Leute sofort zum Handy greifen und filmen. Wir selbst möchten uns gern unter dem Tisch verstecken und wissen nicht, ob wir lachen oder weinen sollen. Wir haben beides getan.

Bei allem schwachsinnigen Verhalten ist sie aber sehr gut in der Lage, sich gegen alles zu wehren. Das heißt, sie akzeptiert keinerlei Hilfe und Unterstützung von außen.  An ein Pflegeheim ist nicht zu denken. Sie würde dort aufstehen und mit dem Bus nach Hause fahren – sie ist ja gut orientiert. Nicht einmal ins Haus lassen würde sie eine Pflegekraft. Warum auch? Sie hat überhaupt keine Krankheitseinsicht, ihr fehlt nichts, sie versteht nicht. Auch das macht diese Erkrankung aus.

Sie wäscht  sich nur noch höchst selten, lässt alles unter sich gehen, isst und trinkt nur mehr zufällig, kotzt es meist wieder aus,  liegt den ganzen Tag im Sessel und starrt in den Fernseher. Sie verfällt vor unseren Augen und wir sind absolut hilflos, können sie zu nichts mehr bewegen. Was sollen wir tun? Mit Gewalt über sie herfallen, sie knebeln und fesseln und unter die Dusche stellen? Mit Medikamenten ruhig stellen und sie im Schlaf waschen? Funktioniert alles nicht in der Praxis. Uns geht die Luft aus, wir wissen nicht weiter.

Es gibt ein paar wenige Selbsthilfegruppen. Dort findet man Trost. Aber eben auch die Bestätigung, dass es überhaupt keinen Plan B gibt. Alle wurschteln sich irgendwie durch den Alltag. Hoffnung auf Besserung gibt es nicht. 

Ist FTD erblich? Auch zu dieser Frage  gibt es bisher keine gesicherten Erkenntnisse.  Seit kurzer Zeit fühle  ich mich unkonzentriert, fahrig, nervös, ungeduldig. Mein Mann versucht mich zu beruhigen. Es wäre Blödsinn, ich sei schon immer so gewesen. 

Neulich habe ich nach vielen Jahren eine Bekannte meiner Mutter getroffen. „Du siehst deiner Mutter so ähnlich – wie aus dem Gesicht geschnitten“, begrüßte sie mich. Weinend bin ich nach Hause gelaufen. Ich habe Angst, nicht nur ihre Gesichtszüge geerbt zu haben.

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