Astrid Windgassen-Frank > Mutter & Kind

Ein Maulwurf braucht keinen Friseur

Kennen Sie diese „Früher war alles besser“-Statements, die im Internet kursieren und von Freunden per WhatsApp verschickt werden? 

„Wir hatten keine Handys und kein Facebook, stattdessen haben wir mit echten Freunden auf der Straße gespielt!“

Das ist zum Teil sehr lustig und zum Teil auch wahr. Aber es gibt auch Sätze, die ich blöd finde: „Früher hatten wir keine Fahrradhelme, keine Autogurte, sind mit vier Kindern unangeschnallt auf der Rückbank mit Mama und Papa nach Italien gefahren. Und haben überlebt.“

Nein, manche haben nicht überlebt. Glauben Sie, wenn es damals schon Gurte und Helme gegeben hätte, wären sie dann nicht benutzt worden? „Nein, mein kleiner Peter trägt keinen Helm. Damit sieht er aus wie ein Beatle mit toupierten Haaren!“ Oder: „Nein, Anneliese zerknittert ihr schönes Kleid mit diesem Gurt. Was sollen die Leute denken? Dass ich nicht bügeln kann?“ Absurd.

Ich will damit nicht sagen, dass früher alles besser war. Schon gar nicht rund um das große Minenfeld „Kindererziehung“. Und doch beobachte ich in den letzten Jahren immer wieder Vorfälle mit Eltern und Kindern, die ich in dieser Häufung früher nicht erlebt habe. Meine Tochter und mein Sohn, inzwischen mehr oder weniger erwachsen, sind bereits ausgezogen. Es ist Ruhe eingekehrt. Zumindest, wenn sie nicht zu Besuch oder am Telefon sind. Natürlich ist es leicht, sich zurückzulehnen und die letzten 26 Jahre Mutterschaft mit all ihren Höhen und Tiefen, Schlafentzug im Schlafanzug, den Sorgen, den Fehlentscheidungen, der Inkonsequenz und meine Unfähigkeit zum Basteln im Nachhinein zu verklären. Vieles habe ich sicher nicht besser gemacht als heutige Mütter. Aber manches habe ich einfach gar nicht gemacht! 

Wie schon ausführlich beschrieben, musste ich dringend zum Friseur. Mit einem Tässchen Kaffee und Zeitschriften mit wenig Text und vielen Fotos vor mir freute ich mich auf zwei Stunden Ruhe und Entspannung. Eine Frau kam mit ihrer etwa vierjährigen Tochter herein. Mit geschultem Blick sah ich sofort, dass die kleine Sophia ein freundliches Wesen mit eher ruhigem Temperament hat. Nur ihre Mutter leider nicht. Die packte sofort eine große Tasche aus und beschrieb mit sehr lauter Stimme den Inhalt: „Hier Sophia, die Mama hat alles mitgebracht, deine Bücher und CDs. Da können wir gleich schön zusammen lesen und singen.“

Die Kleine reagierte gar nicht, schaute sich mit großen Augen um und fand das Geschehen im Friseursalon viel spannender. Aufmerksam beobachtete sie die Frauen mit ihren Antennen aus Alufolie auf dem Kopf, und es hätte ihr völlig gereicht, nur da zu sitzen und in Ruhe zu betrachten. Sie wollte einfach nur zusehen, wie die Friseurin ihr die Haare schneidet. Ich konnte sie so gut verstehen. Ihre Mutter leider nicht. Die Frau war wild entschlossen, alle Register der pädagogisch wertvollen Unterhaltung zu ziehen – „We love to entertain you“.

Es scheint, dass Eltern es nicht mehr ertragen können, wenn ein Kind eine halbe Stunde nichts tut und einfach nur dasitzt. Es könnte sich langweilen. Ein schrecklicher Gedanke. In einer Lautstärke, die alle Geräusche von Fön, Hauben, Telefonklingeln und Wasserplätschern übertönte, schallte die Mutter durch den Salon. Mit gar nicht mal so schöner Stimme und ohne Sophias Unterstützung: 

„Wenn du fröhlich bist, dann klatsche in die Hand…“.

Haben Sie eine Ahnung, wie viele Strophen dieses Lied hat? Bei der siebten Strophe wollte ich auch klatschen. Aber dann wäre hier niemand mehr fröhlich gewesen. Unfassbar!

Sophia und die anderen Kundinnen wollten einfach nur ihre Ruhe haben. Die Mutter ließ nicht locker. Nach einundzwanzig Strophen „Wenn du fröhlich bist…“ hörten wir alle zusammen „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“.

Doch dieser hoch ambitionierten Laienschauspielerin reichte es nicht, nur leise vorzulesen. Nein! Sie wollte Bühne, Theater, Publikum, das volle Programm. Sie „spielte“ das Buch. Und zwar schlecht. Sie war einfach nicht gut in der Rolle. Zu laut, zu schrill. Taube konnte sie nicht gut. Pferd und Hase auch nicht. Ein bisschen besser war sie als Ziege.

Ich wollte sie schlagen. Oder wenigstens beschimpfen. Ein Seufzen der Erleichterung ging durch den Salon, als Sophias Friseurin endlich fertig war. Sie hatte alles gegeben, um dem armen Mädchen in Rekordzeit einen neuen Haarschnitt zu verpassen. Umso bitterer war es, als Sophias Mutter auf dem Stuhl Platz nahm, denn nun war sie an der Reihe.

Ich habe den zweiten Teil von „Ritter Artur und der Drache Pups“ nicht zu Ende gehört und gesehen. Mit nassen Haaren bin ich aus dem Friseursalon geflüchtet, um einer Massenschlägerei zu entgehen.

Am nächsten Tag lag ich prompt mit einer Erkältung im Bett. Mein Mann fragte mich, ob er mir etwas Gutes tun könne. 

„Lies mir das Ende von Ritter Artur und dem Drachen Pups vor. Ich will wissen, ob der Drache seine funktionellen Magen-Darm-Beschwerden noch in den Griff bekommen hat.“

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